UNTERWEGS AUF SECHS BEINEN

Der Sommer hatte im Mischwald vor kurzem endlich Einzug gehalten. Durch den schrecklich langen Winter und das viel zu kalte Frühjahr waren die Völker der Gräser, Ritzen und Furchen geschwächt. Das Nahrungsangebot war diesmal nicht so reichlich ausgefallen. Für heute war vorgesehen, die Blattlauskolonien zu kontrollieren. Doch es regnete schon seit Stunden ohne Unterbrechung.


Die dicht fallenden Wassertropfen waren riesig, etwa fünfmal so groß wie eine Ameise, und sie explodierten förmlich, wenn sie mit voller Wucht auf den weichen Waldboden klatschten. Die feuchten Minidetonationen rissen Nadeln, Laub, kleinere Äste und Erde aus dem Untergrund und schwemmten das Material davon, wenn sich genug Wasser für ein Rinnsal angesammelt hatte.
Jeder einzelne Regentropfen erzeugte im Moment des Bodenkontakts einen nassen, unheimlichen Ton, der die Erde leicht erzittern ließ.


Alle Tropfen zusammen wirkten wie ein endloses Erdbeben, eine dumpf dröhnende Hintergrundmelodie, die gerade erst ausgebesserte Stollen wieder zum Einstürzen brachte und neue Löcher im Kuppeldach entstehen ließ.


Schon bald kam es im Nest zum ersten Wassereinbruch. Ein gurgelnder Sturzbach ergoß sich zerstörerisch in die Gänge der unteren Ebenen, überflutete sie vollständig und riß dabei zahllose Ameisen mit sich.


Nur dem selbstlosen Einsatz der eilig eingetroffenen Arbeiterinnen an der Unglückstelle war es zu verdanken, dass die Wassermassen nicht auch noch die Kammer der Königin erreichten.
Schließlich zog der Regen weiter.


Nach dieser Beinahe-Katastrophe gab es eine Menge zu organisieren und zu reparieren. Die Nahrungsbeschaffung hingegen wurde bis zum nächsten Tag verschoben. Bis dahin stellte das aufgeweichte Gelände eine kaum einzuschätzende Gefahr dar. Schon oft waren ganze Erkundungstrupps nach solchen lebensgefährlichen Unwettern spurlos verschwunden.


Die Roten Waldameisen nutzten diese Zeit, um die nötigsten Reparaturarbeiten am Nest auszuführen. Es entstand ein unglaublich emsiges, scheinbar planloses Durcheinander, das geschäftig durch die gesamte Anlage wimmelte. Jede einzelne Ameise wußte ganz genau, was sie zu tun hatte. Als die Abenddämmerung über den Mischwald hereinbrach, waren alle eingestürzten Gänge repariert und die Löcher in der Deckschicht beseitigt.


In aller Frühe machte sich eine Melkabteilung in den ersten wärmenden Sonnenstrahlen auf den Weg zu dem Zuckerahorn, wo in luftiger Höhe drei Blattlausherden süßen Pflanzensaft saugten. Sie lieferten dem Hort guten Zuckernektar, der ein wichtiger Energiespender war. Ohne diese wichtige Ergänzung in ihrem Speiseplan würde vieles schlechter im Leben der Ameisen laufen.


Die Truppe setzte sich in Bewegung. Als Begleitschutz wurde die Arbeiterinnen von einigen Soldaten flankiert, die mit aufgerichteten Beißzangen nebenher liefen. Ihre drohende Körperhaltung verhinderte die meisten Überfälle aus dem Hinterhalt. Glücklicherweise blieb es trocken. Die gelbe Scheibe trocknete die letzten Spuren des Unwetters und wärmte auch die letzten starren Glieder, ein perfekter Tag.


Das sperrige Unterholz stellte die Ameisen wie gewohnt auf eine harte Probe. Verdorrte Blätter, Astreste und durch den Regen entstandene Furchen erschwerten das Vorankommen bis an die Grenzen der Leistungsfähigkeit. Mehr als einmal geriet der Zug ins Stocken, wenn ein Hindernis umgangen werden mußte oder sich hinter dem nächsten verdorrten Blatt ein unerwarteter Abgrund auftat, den es heil zu überqueren galt.


Später als sonst erreichten die Ameisen schließlich den Ahorn und wanderten ohne Verzögerung auf der noch schwach duftenden Spur vorangegangener Besuche in Richtung Krone. Die Rinde war noch ein wenig glitschig und erschwerte das Vorankommen enorm. Selbst mit Krallen an den Füßen war es alles andere als leicht, auf der warzenübersäten Oberfläche senkrecht in die Höhe zu klettern. Immer wieder liefen kleine, laut blubbernde Rinnsale mit einer großen Bugwelle im Zickzack am Stamm hinunter und führten einige Male fast zur Katastrophe.


Als die Ameisen die erste Abzweigung erreichten, folgten sie ihr sicher nach links. Hier oben, näher an der gelben Scheibe, wurde der Untergrund immer trockener und die Arbeitsgruppe kam endlich schneller voran.


Sie hatten etwa Dreiviertel des Weges zurückgelegt, als es zu einer unangenehmen Begegnung kam. Schnell duckten sich die Ameisen in den Schatten eines beblätterten Zweiges und wurden Zeugen einer grausigen Vorstellung.


Hinter einem größeren Blatt, das von der hell scheinenden Sonne durchleuchtet wurde, zeichnete sich der Umriss einer Jagdspinne ab, die geräuschvoll den aufgelösten Inhalt eines erbeuteten Laufkäfers schlürfte. Selbst die schlechten Augen der Ameisen konnten jede Einzelheit des schaurigen Schattenspiels erkennen. Behutsam zogen sie sich zurück, wanderten auf die Unterseite des Astes und verließen die gespenstische Szene, so schnell sie konnten.


Diese gefleckten, haarlosen Ungeheuer konnten weit und zielsicher springen. Sie waren dreimal größer als eine Waldameise und ziemlich gefräßig. Außerdem besaßen die Jäger ein weiteres Beinpaar und waren um einiges schneller als die Ameisen, deren Laufapparate zudem kürzer als die der Spinnen waren.


Als emsigen Krabbler ihre erste Kolonie erreichten, bot sich ihnen ein trostloser Anblick. Nicht eine einzige Blattlaus war zu sehen, bis auf einen verwischten grünen Fleck, der verloren auf einem der angewelkten Blätter glitzerte.


Unter gebotener Vorsicht suchten die Ameisen schleunigst die zweite Herde auf, die auf der anderen Seite der Krone weidete. Keine leichte Sache, wenn sich hungrige Jagdspinnen im Geäst herumtrieben.


Glücklicherweise kam es zu keinem Zwischenfall. Die Blattläuse waren noch da und saugten friedlich an den mittlerweile ziemlich mitgenommen Blättern der näheren Umgebung. Viel Pflanzensaft gab dieser Platz nicht mehr her.


Nachdem sich die Ameisen ausgiebig an den süßen Ausscheidungen gestärkt hatten, schnappte sich jede mit den Zangen vorsichtig eine der Blattläuse und trug sie zum nächsten Weideplatz. Nur die Soldaten blieben ohne Fracht. Sie mußten die Umsiedelung bewachen und brauchten für den Ernstfall Bewegungsfreiheit. Außerdem waren ihre Zangen eher dazu geeignet, einen Angreifer in zwei Teile zu zerlegen, als eines dieser zarten, grünen Geschöpfe zu tragen.


Während die Soldaten an der Spitze darauf aufpassten, dass es nicht zu unangenehmen Überraschungen kam, bahnte sich am Ende der Ameisenschlange in diesem Moment genau das an.


Eine der Arbeiterinnen kam unerwartet aus dem Tritt, rutschte mit den Hinterbeinen weg und fiel einfach in die Tiefe. Verzweifelt hielt die Ärmste ihren Passagier, die leise wimmernde Blattlaus mit den Beißwerkzeugen umklammert, während sie wie ein beinahe schwereloses Blatt in den scheinbar bodenlosen Abgrund trudelte.


Eine plötzliche Windböe fauchte durch den Wald und trieb die unglückliche Ameise noch weiter vom Ahorn ab. Kurz vor dem Ende ihres Sturzes prallte sie unsanft gegen einen Zweig, der sich mitten in ihrer Flugrichtung im Wind wiegte und verlor die Blattlaus durch den harten Zusammenstoß. Hilflos sah die Arbeiterin, wie die Laus ängstlich quietschend zwischen einigen verottenden Blättern verschwand. Genau in diesem Moment endete auch für die Ameise der freie Fall.


Obwohl die meisten Insekten aus hartem Chitin geschnitzt waren und deswegen auch einiges vertragen konnten, war der Aufprall so hart, dass sie einige Körperlängen wieder in Höhe federte, wild zappelnd in der Luft umhertrudelte und ungewollt genau in eine dunkle Lücke zwischen rottenden Blättern des Waldbodens stürzte.


Von einem Augenblick zum anderen befand sich die Arbeiterin in einem Revier, in dem sie die Nahrung war. Deshalb verlor sie keine Zeit und arbeitete sich unter Aufbietung sämtlicher Kraftreserven aus der zähen Humusschicht.


Kaum hatte sie das Tageslicht wieder erreicht, lief sie zu der Stelle, wo die Blattlaus verschwunden war. Das gestaltete sich alles andere als leicht, denn das Gelände war mit einem Gewirr halb zersetzter Laublätter nahezu übersät, wodurch es für die wesentlich kleinere Ameise fast unmöglich wurde, eine genaue Positionsbestimmung durchzuführen.


Nach einer anstrengenden Kletterpartie durch den Blätterdschungel fand sie den Platz, wo ihr Schützling verschwunden war. Mit unglaublicher Kraftanstrengung zwängte sie sich zwischen den Hindernissen hindurch und roch beinahe gleichzeitig die süßen Ausscheidungen ihres Schützlings. Gerade noch rechtzeitig. Denn ein kleiner, bunter Käfer hatte die Blattlaus bereits entdeckt und augenblicklich für lecker befunden. Doch er wurde um Haaresbreite enttäuscht.


Die Arbeiterin rettete die Blattlaus im letzten Moment aus der mißlichen Lage, krabbelte mit ihr an die Oberfläche und stellte nach kurzer Untersuchung fest, dass ihr nichts weiter geschehen war.
Ohne weitere Verzögerung machte sich die Arbeiterin auf den gefahrvollen Rückweg. Hier im unübersichtlichen Unterholz und auf sich selbst angewiesen, ging sie damit ein ziemlich hohes Risiko ein. Andererseits blieb ihr gar nichts übrig, wenn sie überleben wollte.


Intensiv beroch sie mit ihren Fühlern die nähere Umgebung, um einen Eindruck von der Situation zu erhalten. Das war einigermaßen schwierig, denn die Ausdünstungen anderer Tiere überlagerten die feinen Geruchstraßen der Ameisen, die sich kreuz und quer durch den Wald zogen.


Schließlich fand sie einen vagen Hinweis und krabbelte im Schutz einer ausgedehnten, betäubend duftenden Waldmeistermatte in die Richtung, wo der Ahorn wuchs. Unterwegs begegnete sie vielen seltsamen Kreaturen, die im Halbdunkel des Kräuterhains lebten. Diese liefen zumeist schnell davon, denn Ameisen waren weithin dafür bekannt, dass sie auch andere Insekten nicht verschmähten. Sie konnten ja nicht wissen, dass die kleine Abenteurerin im Augenblick keine Zeit für sie hatte.


Als die Arbeiterin mit ihrer Fracht etwa die Hälfte des anstrengenden Weges durch die wild zerklüftete Landschaft des Waldbodens zurückgelegt hatte, kam es zu einer brenzligen Situation.
Wie aus dem Nichts kreuzte plötzlich ein riesiger Tausendfüßler ihren Weg und wurde sofort auf das merkwürdige Duo aufmerksam. Neugierig und zweifelsohne hungrig, kam der gepanzerte Vielfußwurm rasch näher.


In wenigen Augenblicken wuchs das Tier zu einem gigantischen Schatten heran, und die Arbeiterin sah das scheußliche, feucht glitzernde Freßwerkzeug, das schon fast ihr gesamtes Gesichtsfeld ausfüllte. Sie war so starr vor Schreck, dass ihre Beine versagten.


Doch genau in der Sekunde des Zubeißens verschwand der gefährliche Räuber unerwartet nach oben. Ein großer Schnabel hatte ihn gepackt, quetschte ihn und verschlang ihn mit großem Appetit.


Der Eichelhäher war so mit dem zappelnden Happen beschäftigt, dass er nicht auf das achtete, was um ihn herum vorging. Die Ameise erwachte aus ihrer Lähmung, nutzte die Gelegenheit und rannte schnell davon. Dabei hielt sie die fortwährend wimmernde Blattlaus mit sanfter Gewalt fest.
Als sie schließlich sicher war, dass sie nicht verfolgt wurde, hielt sie an, um die Richtung erneut zu peilen. Nach kurzer Orientierung stellte sie fest, dass sie sich auf ihrer panischen Flucht nicht verirrt hatte. Sie war noch auf dem richtigen Weg, aber noch nicht außer Gefahr.


Ein lautes schnaufendes Schnüffeln wühlte sich hinter ihr durch das Unterholz und die Arbeiterin zuckte im Reflex herum. Sie kannte dieses Geräusch und das Wesen, zu dem es gehörte. Und sie fürchtete es mehr als alles andere.


Ohne abzuwarten, bis sie entdeckt wurde, lief sie auf einen Steinhaufen zu, um sich dort zu verstecken. Mit ihrer Fracht war die Ameise nicht schnell genug, um dem Igel zu entkommen. Sie mußte warten, bis sich der Stachelpelz wieder verzogen hatte.


Im Innern des Verstecks war es feucht, dunkel und kühl. Viele hungrige Facetten begutachteten das zarte Geschöpf und den Passagier, den es bei sich trug. Fast alle wußten, dass man sich mit Ameisen besser nicht anlegte. Denn wo eine war, konnten die anderen auch nicht weit sein. Nur diesem Umstand hatte es die Arbeiterin zu verdanken, dass sie nicht aus dem Hinterhalt angegriffen wurde.


Es dauerte eine ganze Weile, bis der Eindringling wieder weg war. Die pieksige Fressmaschine war gerade auf eine Gruppe von Pilzen gestoßen, denen sie gierig zu Leibe rückte. Unter behaglichem Schmatzen wanderte ein Brocken nach dem anderen in den Magen des Allesfressers. Zurück blieben einige kümmerliche Stielreste und ein satter Igel, der träge um sich blinzelte. Dann trollte er sich endlich und die Arbeiterin verließ ihr Versteck, um den den Rest des Rückweges in Angriff zu nehmen. Weit konnte es nicht mehr sein, denn sie roch die Duftspuren ihrer Artgenossen schon deutlicher als zuvor. Glücklicherweise kam es auf dem letzten Stück der Zielgerade zu keiner weiteren unangenehmen Begegnung.


Flink folgte die Arbeiterin den Informationen auf der Borke und stieß schließlich auf ihre Gruppe, die sich inzwischen schon wieder auf dem Rückweg befand. Einer der Soldaten zeigte der Arbeiterin den neuen Weidegrund, während die anderen darauf warteten, dass die beiden wieder zurückkehrten.


Im Hort angekommen, wurde die Nachricht verbreitet, dass eine der Blattlauskolonien überlebt hatte. Die selbstlose Tat der Arbeiterin wurde dagegen nicht erwähnt. Im Leben von Ameisen gab es keinen Platz für die Leistung einzelner Nestbewohner. Nur die Gemeinschaft als solches zählte.


Nachdem die chemische Botschaft des Melktrupps auch bis in den hintersten Winkel des Hortes gedrungen war, nahm das Volk im Ameisenhügel seine Arbeit wieder auf...