DER TURM

 

Leise knarrend bewegte sich das verwitterte Gebälk des uralten Turms im Wind, als einige stärkere Böen durch die abenteuerliche Dachkonstruktion fegten. Die bizarre Bedeckung war im Laufe der Zeit schon oft ausgebessert worden. Stoffreste, Reisig, Moos und Lehm bildeten eine feste, undurchdringliche Schicht, die jeder noch so schlechten Wetterfront trotzte.Lose Zweige klapperten mit nassen, flappenden Stofffetzen um die Wette, wenn die häufigen, stürmischen Wind-Attacken das Dach heftig durchschüttelten.


Es war ein kraftvoller Kampf zwischen zwei gleichstarken Gegnern. Rütteln und Zerren auf der einen Seite, Trotz und Stabilität auf der anderen.


Durch die Erosion vieler Jahrhunderte war der Turm mürbe und brüchig geworden. Das hinderte die Ruine aber nicht daran, auch weiterhin das greise Haupt in den Wolken verhangenen Himmel zu recken.

 

Sven Hællgård seufzte und wandte sich Kopf schüttelnd von dem absonderlichen Bauwerk ab. Die Männer, die ihn begleiteten, waren ohne Ausnahme furchtlose Krieger und immer zum Kampf bereit. Doch an diesem beklemmenden Ort gab es keine Angreifer, die im Hinterhalt lauerten.
"Wer von euch jetzt noch glaubt, dass dieser Ort verflucht ist, braucht sich nur mal umzusehen. Hier ist rein gar nichts, was der Mühe wert wäre!" Nur schwer konnte Sven seine Enttäuschung verbergen. Es schmeckte ihm überhaupt nicht, in die Irre zu laufen. Keine der alten Legenden bestätigte sich, weder die Geschichten über einen verborgenen Schatz noch das Gerücht, dass jeder beim Anblick des Turms augenblicklich zu Stein wurde. "Trotzdem schlage ich vor, eine kurze Rast einzulegen. Es ist noch früh..."


"Hey Sven, sieh mal da drüben!" rief Arne Thorsson, ein baumlanger Krieger, mit aufgeregter Stimme. "Das mußt du dir unbedingt ansehen, sieht aus wie Schiffswracks!" Aufgeregt wedelte er mit seinem vernarbten, linken Arm in die entsprechende Richtung, während die anderen aufsprangen und neugierig näher kamen.


"Sind tatsächlich Schiffe", brummte Sven nach einer Weile und nahm die Hand von der Stirn, "so weit man das erkennen kann, in einem ziemlich schlechten Zustand. Arne und Erik! Ihr Zwei geht nachsehen. Wir werden inzwischen hier weiter nach einem Schatz suchen."

 

Es war finster zwischen den dicht gedrängten Bäumen. Die zwei Männer blieben eng beisammen, redeten nicht und sperrten Augen und Ohren auf. Sie hatten Angst, auch wenn keiner es jemals vor dem anderen zugeben würde. Dieser Ort war unheimlich.


Verbissen kämpften sich Arne und Erik fast einen halben Tag durch das dornige Unterholz. Sie kamen dabei nur langsam voran und stolperten oft genug über verborgene Baumwurzeln. Immer wieder rissen dornige Brombeerranken an ihrer Kleidung und schlitzten blutige Striemen über die ungeschützte Haut. Es war ein zähes, mühsames Ringen, das den beiden Kriegern alles abverlangte. Dann waren sie aus dem Wald heraus.


Schweratmend blieben sie an der vordersten Baumlinie stehen und genossen für einen kurzen Moment die frische Brise, die vom Meer herüberwehte. Kurz darauf entdeckte Arne am Ende der Bucht den Schiffsfriedhof.Der Zahn der Zeit hatte den mehr als zwei Dutzend Wasserfahrzeugen übel mitgespielt. Sie waren kaum noch mehr als ein verrottender Haufen Brennholz mit geringem Heizwert.


"Was suchen wir hier überhaupt?" knurrte Erik, dem deutlich anzusehen war, wie wenig er von dem Ausflug hielt.


"Deinem vom Met vernebelten Verstand ist wohl entgangen, dass die Rümpfe hier alle aufgerissene Flanken haben. Also mir gibt das zu denken." Arne zog die Stirn kraus und wartete auf eine Antwort.


"Riffe vielleicht?" versuchte Erik vorsichtig seinen Patzer auszubügeln.


"Hier, in diesem Teil der Nordsee? Hör ich zum ersten Mal." Im Stillen schüttelte Arne den Kopf. Irgend etwas ging in diesen Gewässern nicht mit rechten Dingen zu.


"Was könnte sie sonst so zurichten, wenn nicht ein steinernes Hindernis unter Wasser", murmelte Erik und ließ seine Augen über die Wracks schweifen. "Ich sehe keine Brandspuren und auch sonst nichts, was auf einen Kampf hindeutet. Nicht ein einziger Knochen, und auch keine Waffen und Kleider. Sehr seltsam..."


Sie teilten sich und nahmen sich die havarierten Schiffe einzeln vor. Die staubtrockenen Trümmer waren überwiegend halb im weißen Sand verborgen. Sie mußten schon eine ganze Weile hier liegen. In sämtlichen Laderäumen herrschte gähnende Leere, und es roch nach Muscheln und Seetang. Das war aber auch schon alles.


Drei der gestrandeten Segler sahen nicht so beschädigt aus wie anderen. Sie schienen vor nicht allzu langer Zeit aufgelaufen zu sein. Doch auch hier gab es sonst nichts zu sehen. Selbst die von Seepocken und Algen überzogenen Planken, die in der sanften Dünung dümpelten, wurden genauer untersucht. Aber immer wieder bot sich das gleiche Bild. Kein einziger Hinweis tauchte auf, der Licht in das Rätsel brachte. Die Kratzspuren, die Erik schließlich an einer Planke entdeckte, trugen nur noch mehr zur Verwirrung bei. Sie stammten eindeutig nicht von Tierkrallen.

 

Inzwischen legte der Wind kräftig zu. Er trieb dunkelgraue Wolkenbänke am eben noch blauen Himmel zu einem Unwetter zusammen und wühlte die schwappende Nordsee immer mehr auf. Schon bald zogen lange, braunschaumige Wellenkämme gegen die Inselküste und brachen sich mit rauschendem Rollen am sandigen Ufer. Weiter oben versickerte das Salzwasser unter zischendem Brodeln und Blubbern im feuchten Sand.


Fast entstand der Eindruck, dass das Meer den Spähtrupp zu vertreiben versuchte. Das war gar nicht mehr nötig, denn Arne und Erik hatten der Szene schon den Rücken zugekehrt. Sven Hællgård war ratlos. Schon seit Stunden versuchten sie mit allen Mitteln, in den Turm hinein zu kommen. Es gab weder eine Tür, noch Fenster oder sonstige Öffnungen, durch die sie hätten eindringen können. Sie fällten einen mächtigen Baum und benutzen ihn als Ramme. Als das auch nichts brachte, versuchten sie einen Tunnel unter den Grundmauern hindurchzugraben. Denn nach wie vor vermuteten sie den Schatz in seinem Innern.


Mit ihren Äxten wühlten sie sich in die Erde, obwohl sie mit ihnen lieber einige Schädel gespalten hätten. Das Fundament schien endlos in den Boden zu reichen. Je tiefer sie gruben, desto größer wurde der Unmut. Es war es nur eine Frage der Zeit, bis der erste Streit ausbrach.


"Ich schlage dir deine beiden letzten Zähne auch noch aus, wenn du mich nochmal mit Dreck bewirfst", drohte Gunnar Ulbrandsson, ein Muskel bepackter Gigant, der aus der Bauernsiedlung Jarlshof stammte und zu Svens treuesten Verbündeten gehörte. "Wozu hast du deine Augen im Kopf. Du brauchst nur Bescheid zu sagen, wenn du sie nicht mehr brauchst!"


"Ach, stell dich gefälligst nicht so an", grollte Berwyn zurück, "war doch keine Absicht."


Kaum hatte Berwyn das ausgesprochen, heulte Gunnar wütend auf und stürzte sich mit ausgebreiteten Armen auf seinen Kontrahenten. Im Handumdrehen war eine wilde Keilerei im Gange, an der sich nach und nach alle Männer beteiligten. Der Befehlshaber ließ sie gewähren. Er begriff gleichzeitig, dass es ein Fehler gewesen war, diese verdammte Insel zu betreten.
Stumm betrachtete er die Streitereien und überlegte, ob die Auseinandersetzungen das Ergebnis eines Fluches sein könnten. Grübelnd ging er einige Schritte die Anhöhe hinunter.


In diesem Moment hörte er hinter sich lautes Geschrei. Er drehte sich um. Alles war plötzlich voller Nebel, der ihm schon bis zu den Knöcheln reichte und immer höher wallte. Nacheinander verstummten die Schreie.


Als Sven sah, dass er dem substanzlosen Angreifer nicht entkommen konnte, sprang er mit einigen grotesken Hüpfern mitten durch den wallenden Nebel und kletterte kurz entschlossen an der bröckeligen Außenmauer der Ruine hoch.


Wenig später verharrte Sven Hællgård auf dem Dach des Turms und beobachtete, dass die weiße Wand unter ihm über die gesamte Anhöhe kroch. Nachdem sie den äußeren Rand der Bäume berührt hatte, löste sich die Nebelglocke unerwartet und blitzartig auf.


Es war niemand mehr zu sehen, und von der Ausrüstung fehlte ebenfalls jede Spur, so weit das von hier oben zu erkennen war. Sven brüllte die Namen seiner Begleiter. Niemand antwortete. Er rief weiter, auch wenn das vielleicht nichts mehr nutzte. Irgendwann bemerkte er aus den Augenwinkeln, dass sich ein größeres Schiff dem Eiland näherte.


Jetzt ging es nur noch darum, irgendwie die eigene Haut zu retten, bevor es Nacht wurde. Sven ahnte, dass es nicht gut war, in unmittelbarer Nähe des Turms auf die Dunkelheit zu warten.
Er überlegte fieberhaft, wie er die Mannschaft des näherkommenden Schiffes auf sich aufmerksam machen konnte und entschloß sich nach kurzem Zögern, den Turm einfach anzuzünden. Ob das eine gute Idee war, würde er dann sehen. In jedem Fall mußte er hier weg, denn alleine konnte er sein Schiff kaum vom Strand wegbewegen. Hastig arbeitete er sich nach unten und setzte den Gedanken sofort in dieTat um.


Das erste kleine Flämmchen leckte an einem mürben Stück Stoff hoch, das er durch die Zündfunken des Feuerschlägers entfacht hatte.

 

Arne und Erik sahen den lichterloh brennenden Turm schon vom Strand aus. Ohne den Schreck abzuwarten, sahen sie sich kurz an und rannten schnell in das Zwielicht der Bäume zurück.
Der düstere Wald war jetzt noch dunkler, und die Dornenhecken viel zahlreicher als auf dem Hinweg. Mit aller Gewalt kämpften sich die beiden durch das dichte Unterholz. Die Brombeeren wehrten sich mit einer Vehemenz gegen die Eindringlinge, die kaum etwas Natürliches hatte. Immer feinmaschiger wurde das unwegsame Geflecht der Dornentriebe. Arne und Erik wurden zunehmend langsamer.


Am Ende blieb nur noch ein rohes Zerren und Reißen, denn die Schwerter und Messer waren nutzlos. In dem filzigen Dickicht konnten sie nicht zum Schlag ausholen. Außerdem blieben sie mit ihren langen Bärten ständig zwischen den wehrhaften Trieben hängen.


"Bei Odins Gebeinen!", knurrte Arne und wischte sich das Blut von der Stirn, wo ihn eine der vielen Stachelpeitschen getroffen hatte. Er grunzte etwas Unverständliches und packte wutschnaubend ein weiteres Bündel der Beerenranken. Wie ein Berserker riß er daran, doch ohne Erfolg.


Dreißig Schritte weiter war ihre Reise abrupt vorbei. Eine grüne, undurchdringliche Mauer versperrte ihnen den Weg. Panik kam auf, als sie erkannten, dass sie nicht mehr vor und zurück kamen. In ihrem Rücken gab es ebenfalls nur noch dieses schreckliche Zeug.
Arne und Erik verhedderten sich hoffnungslos und blieben endgültig stecken. Sie hingen fest. Gefangen wie Fliegen in einem Spinnennetz. Die dornigen Finger würden die (...ihre?) tödliche Umklammerung nicht mehr lösen, und den Kriegern blieb nichts anderes übrig, als hier auf ihr Ende zu warten.

 

Wie ein ausgehungerter Drache fraß sich die rasch größer werdende Lohe an den mürben Efeu-Lianen empor und breitete sich mit beängstigender Geschwindigkeit innerhalb weniger Herzschläge brüllend über den gesamten Turm aus.


Erschrocken wich Sven zurück, um nicht von den Flammen erfaßt zu werden. Mit gemischten Gefühlen starrte er abwechselnd zum Schiff hinüber und dann wieder auf die kreischende Feuersbrunst vor ihm, die das Bauwerk mittlerweile vollständig umhüllte.


Eigenartigerweise verbrannten die einzelnen Bestandteile nicht. Lediglich die Stoffreste im Dach versengelten zu umherschwebender Asche. Das Flammenmeer fraß etwas Unbekanntes, um am Leben zu bleiben.


Wie gebannt starrte er auf das das gefräßige Inferno, das den Turm selbst nicht versehrte, nahm sich aber nicht die Zeit, das unerklärliche Phänomen zu ergründen. Statt dessen erwachte er aus seiner Starre, als er bemerkte, dass das Schiff mit direktem Kurs auf die Küste zuhielt. Offenbar war das Feuer vom Ausguck entdeckt worden.

 

An Bord des norwegischen Piratenschiffs "Miölnir" rieben sich die Seeleute vorfreudig die Hände, als sie den brennenden Turm entdeckten. Schon oft in diesen finsteren Zeiten hatten ihnen feurige Schauplätze den Weg zu lohnender Beute gewiesen. Das war Grund genug, auch jetzt die Reise zu unterbrechen.


"Sieht aus, als ob da Kupfer brennt", meinte einer der Piraten nachdenklich und rieb sich das bärtige Kinn, "vielleicht gibt es dort irgendwo eine Ader."


"Wo Kupfer ist, gibt es bestimmt auch Gold und Silber", lachte ein anderer Freibeuter, der nicht weit entfernt an der Reling lehnte. Er rammte sein Holzbein geräuschvoll auf das Deck und humpelte wieder zu der Taurolle zurück, die er beim Anblick des brennenden Turm fallengelassen hatte.


In dem Augenblick, als das Langschiff die Südbucht erreichte, erlosch das Turmfeuer unerwartet. Dann sahen alle den Friedhof der havarierten Wasserfahrzeuge und erschraken zutiefst.
"Ruder hart Backbord!" befahl Peersson Thorwald, der Schiffsführer, seinem Steuermann mit schneidender Stimme. Schwerfällig drehte sich die tief liegende "Miölnir" wieder in den Wind und hielt langsam auf die offene See zu. Doch es war schon zu spät.


Ein Nerven zerfetzendes Bersten und Splittern ertönte aus dem Bauch des Norwegers, der sich mit weit aufgerissener Seite nach Backbord neigte und tödlich verletzt umzukippen drohte.
Innerhalb weniger Augenblicke lief der Laderaum sprudelnd voll Wasser und zog das waidwunde Piratenschiff langsam, aber unerbittlich unter die Oberfläche. Das verdammte Riff, wo auch immer es hergekommen war, hatte ganze Arbeit geleistet.


In heilloser Panik sprangen die ersten Seeleute schreiend über Bord, um sich an die Küste zu retten. Sie erreichten sie nie.

 

Über die Baumwipfel hinweg verfolgte Sven Hællgård mit aschfahlem Gesicht, wie der Norweger in weniger als dreißig Schiffslängen vom Ufer plötzlich auf ein unsichtbares Hindernis auflief, bis in die Mastspitze erzitterte und sich auf die Seite legte. Dann sank er, schnell und lautlos, abgesehen von den weit entfernten Schreckensschreien der Unglücklichen.


Ungläubig und mit hängenden Armen betrachtete Sven den grauenvollen Zwischenfall. Er wußte irgendwie, dass keiner der Seeleute den Strand lebendig erreichen würde. Damit war auch sein Schicksal besiegelt.

 

Etwa ein Jahrhundert später landeten erneut Schiffe auf dem rätselhaften Eiland. Die Seeleute, die mit ihnen kamen, begannen ohne Umschweife damit, den Wald abzuholzen, um daraus Häuser zu bauen.


Der Turm, der sich allen Bemühungen, ihn zu entfernen, erfolgreich widersetzte, wurde im Laufe Zeit von den Häusern vollständig umschlossen. Die Ortschaft wuchs, und der Name Rungholt wurde schon bald allerorts mit neidischer Bewunderung ausgesprochen. Es hieß, dass die Bewohner der Insel geradezu in Reichtum badeten.


Niemand ahnte zu diesem Zeitpunkt, dass die Kolonie von vornherein zum Scheitern verurteilt war. Auch als sie zu voller Blüte gelangte, hatte niemand das Geheimnis des Turms lüften können. Zwei aufeinanderfolgende Sturmfluten besiegelten schließlich das Schicksal von Rungholt.
Zuletzt ragte nur noch die oberste Spitze des Turms eine ganze Weile aus den Fluten der Nordsee. Dann verschwand auch irgendwann dieser Rest auf Nimmerwiedersehen im Meer.