TOD IM KARBON

Corwyn Hicken erwachte einen Augenblick später und hatte für einige Schrecksekunden keine Orientierung. Als ihm dann klar wurde, wo er sich befand, drohte sein Verstand auszuhaken. Doch nach wenigen Augenblicken gewann die Vernunft wieder Oberhand. Er setzte sich in den Kontrollsessel.


Jetzt, wo er endgültig für sich alleine war, begannen die gebrochenen Finger wie wild zu pochen. Er schrie auf, als ein glühender Schmerz durch seinen rechten Arm jagte. Ohne lange zu überlegen, packte er entschlossen zu und zog mit einem harten Ruck an den verletzten Gliedern. Knirschend schoben sich die Knochen an den Fingerwurzeln in die ursprüngliche Position zurück.
Corwyn schrie wie am Spieß. Die ganze Welt schien nur noch aus hellem, flammenden Schmerz zu bestehen. Nach einigen endlosen Augenblicken zogen sich die peinigenden Wogen in den hintersten Winkel des Gehirns zurück. Er konnte wieder klar denken. Zwar brütete die Fraktur weiterhin pochend, doch er konnte wenigstens wieder einigermaßen erkennen, was um ihn herum geschah.


Zufällig fiel sein Blick auf die zerstörten Armaturen der Computerkonsole. Er schickte einen stillen, wüsten Fluch an Corwyn und überlegte, ob er nicht irgendwie wieder aussteigen konnte. Plötzlich bewegten sich wie von Geisterhand zwei der Starthebel nach vorne, die direkt vor ihm aus der Konsole ragten. Er spürte ein unangenehmes Vibrieren, sowohl in den Eingeweiden des Einsteinschen Containers, als auch in seinen eigenen. Ihm wurde speiübel; die Zeitmaschine startete.


Corwyn Hicken knirschte mit den Zähnen. Es war aus; unsinnig, sich noch weitere Gedanken zu machen! Mit einem Ruck stand er auf. Er öffnete eine Klappe in der Seitenwand und zerrte einen Overall heraus, der sich, vorschriftsmäßig zusammengefaltet, in der dahinterliegenden Nische befand.


Viel Zeit hatte er nicht. Vielleicht mußte er dieses Blechding nach der Landung schnell verlassen, und er wußte nichts von der Zeit, die ihm erwartete. Schnell zog er den Overall an und legte den Helm bereit. Zufällig fiel sein Blick auf die Zeitskala - 198 Millionen Jahre. Die Zeit drängte. Nachdem er kurz auf die konzentrisch kreisenden, orangefarbenen Nebel gestarrt hatte, überprüfte er pedantisch die Habe, die ihn bis zu seinem unausweichlichen Ende begleiten und ernähren sollte.


Nahrungskonzentrate waren für vier Wochen vorhanden, wenn er sie streng rationierte. Mit dem Wasser würde er länger auskommen, wenn er einen entsprechend großen Behälter fand, in dem er es transportieren konnte. Ärgerlich war nur, dass er keine Waffe hatte und auch nichts anderes, das sich als solches verwenden ließ.


Während er weiter seine magere Ausrüstung untersuchte, lief ein bremsendes Geräusch durch den Rumpf des Einsteinschen Containers. Corwyn erstarrte zur Salzsäule, als er auf den Monitor sah.


"314,34 Millionen Jahre - ZIEL ERREICHT!" 


Nervös beobachtete er das kurze Aufflackern des Bildschirms. Die Außenkamera schaltete sich ein und übertrug einen Schwenk über die unmittelbare Umgebung.


"SCHUTZHELM ERFORDERLICH - 2:53 MINUTEN BIS ZUR DETONATION..." stellte der nüchterne, grünlich schimmernde Text auf der Mattscheibe unbeteiligt fest.


Der Ex-FBI-Agent erschrak zu Tode. Warum explodierte dieser Eimer? Reichte es nicht schon vollkommen aus, in eine ferne, unbekannte Wildnis ohne Rückfahrticket gespuckt worden zu sein? Er verlor keine Zeit und streifte sich den Helm über den Kopf. Während er sich den Überlebensgürtel umschnallte, öffnete er das Außenschott.


Als er nach draußen sprang, befand er sich von einem Augenblick zum anderen in einer fremden, unheimlichen Welt. Zuerst erkannte er nur unbestimmte Dinge. Seine Augen mußten sich erst auf das diffuse Halbdunkel einstellen. Nach einer Weile, die kaum mehr als ein paar Sekunden gedauert hatte, erkannte er Einzelheiten.


Kaum zwei Meter von ihm entfernt wuchs ein riesiger Schuppenbaum in die Höhe. Corwyn riß sich von dem gewaltigen Anblick los und schaute auf seinen Chronometer. Es blieben noch etwa anderthalb Minuten bis zur Explosion. Er mußte sich beeilen. Die Sprengung der Zeitmaschine sorgte bestimmt dafür, dass die umherschwirrenden Fragmente im Umkreis von mehreren hundert Metern schwerste Verwüstungen anrichteten.


Er rannte wie ein Geisteskranker von der tickenden Bombe fort, hinein in die unbekannte Wildnis. Als seine Lungen der Ansicht waren, dass er weit genug gelaufen war, blieb er stehen und drehte sich keuchend um.


Ein greller, blauweißer Feuerball, gefolgt von einem wummernden, dumpfen Knall raste vernichtend zwischen die Pflanzen, während Corwyn sich erschreckt der Länge nach in den allgegenwärtigen Morast warf. Mit dem zugleich aufspritzenden Schlamm fegte eine ungeheure Druckwelle über ihn hinweg. Metallsplitter pfiffen sirrend wie Maschinengewehrsalven durch die Luft. Wie durch ein Wunder wurde er nicht verletzt.


Noch wußte Corwyn Hicken allerdings nicht, dass die Explosion den Stamm eines mächtigen Lepidodendron im unteren Drittel zerfetzt hatte, der nun wie in Zeitlupe in seine Richtung kippte.
Der fallende Schuppenbaum mähte wie eine dreißig Meter lange Sense alles nieder, was im Weg stand oder hing. Er krachte durch meterhohe Schachtelhalme hindurch und knickte sie beiläufig um. Die berstenden Geräusche erfüllten den prähistorischen Urwald mit zerstörerischem Lärm. Der urzeitliche Baum landete krachend, zusammen mit dem heruntergerissenen Pflanzenmaterial klatschend im aufspritzenden, sumpfigen Boden.


Corwyn hob vorsichtig den Kopf und wurde prompt von einem dicken Knüppel am Hals getroffen. Ihm wurde schwarz vor Augen.


Kurz darauf erwachte der Karbonwald ringsherum wieder zum Leben. Aus den Bäumen, den Ästen, der Rinde und dem sumpfigen Boden, drang eine Vielzahl von seltsamen Lauten. Die niederen Tiere - Insekten, Gliederfüßler und andere, mutiert anmutende Geschöpfe - waren die Herrscher dieser versunkenen Welt. Überall kribbelte, krabbelte und flatterte ein unüberschaubar wirres Chaos über und durch das explodierte Grün der unzähligen verschiedenen Pflanzenarten.
Die feuchtschwangere Luft des Karbonurwalds war der ideale Nährboden für jede Art von Grünzeug.


Corwyn erwachte. Sein Schädel dröhnte. Er hörte eigenartige Töne in seinem Kopf, bis er begriff, dass sie von außen kamen. Ein milchiger Schleier hing vor seinen Augen, der sich nun allmählich lichtete. Plötzlich wurde ihm etwas klar. Er war ein Fremder. Diese ganzen Laute...sie sprachen über ihn, taxierten ihn aus Milliarden gieriger Facettenaugenpaare und teilten ihn wahrscheinlich in diesem Moment gerade unter sich auf.


Er erhob sich schnell. Der Overall war völlig verdreckt. Aber das war nur ein zweitrangiges Problem. Ihn interessierte im Augenblick mehr das Ausmaß der Explosion. Als er sich bewegen wollte, spürte er am linken Unterschenkel etwas ziemlich Großes. Panik flutete in ihm hoch.


Gehetzt blickte er an sich hinunter und fing wie ein Irrer an zu brüllen, als er sah, was sich an sein Hosenbein klammerte. Ein mehr als armlanger Gliederfüßler krabbelte auf seinen zahllosen Beinpaaren nach oben, wobei er sich am glatten Stoff des Overalls mit Hilfe seiner Fußhaken festhielt und vorwärts zog.


Angeekelt wischte Corwyn ihn mit einem Hieb vom Oberschenkel. Dabei zerquetschte er, mehr aus Versehen, das breite Kopfteil des Arthropleura. Der Chitinkörper platzte wie eine überreife Melone auseinander.


Gelblichweißer Schleim quoll aus den zertrümmerten Segmenten und spritzte nach allen Seiten. Der Ex-Bandit drehte durch und zerfetzte das ohnehin schon so gut wie tote Tier. Schreiend riß er es in Stücke. Dabei sprang er wie ein Ziegenbock im Schlamm umher. Die Ähnlichkeit mit einem tanzenden Derwisch war nicht zu übersehen. Irgendwann beruhigte er sich ein wenig.


Überall auf dem Überlebensanzug klebten die glibberigen Überreste des Gliederfüßlers. Corwyn hatte Mühe, nicht in den Anzug zu erbrechen. Würgend versuchte er an einer nahen Pfütze die wabbelige Substanz, die dem Arthropleura noch vor einigen Minuten als Innereien gedient hatte, herunterzuwaschen. So weit er sich zurückerinnern konnte, war das die ekelhafteste Beschäftigung, der er je nachgegangen war. Nach einer Weile stand er auf und ging zu der Stelle, wo die Zeitmaschine in die Luft geflogen war.


Ein riesiger, kreisrunder Krater klaffte im Boden. Die gezackten Kanten des Loches wirkten wie die Wundränder einer grauenhaften Verletzung. Durch die Wucht der Detonation waren sämtliche Pflanzen der näheren Umgebung in kleine, handliche Stücke zerhackt worden. Die Gegend sah aus wie ein gigantischer Rohkostsalat. Er schüttelte den Kopf, als er das Ausmaß der Zerstörung erkannte. Doch die Natur ließ sich nicht so schnell entmutigen. In zwei bis drei Wochen war hier wieder alles dichtgewachsen.


Corwyn Hicken schlenderte langsam um den zwei Meter tiefen Krater herum. Dann hatte er genug. Er wandte sich ab und begann damit, sein prähistorisches Gefängnis zu erkunden. Skeptisch betrachtete die bizarre Pflanzenwelt, die von dem ständigen polyphonen Summen der Karboninsekten akustisch belebt wurde.


Eine, im Wasser eines Sumpfsees stehende, große Gruppe von Schuppenbäumen zog seine Aufmerksamkeit auf sich. Die Rinden der hohen, schlanken Stämme waren von spiralförmig nach oben gewundenen Blattnarben übersät. Ihr Aussehen war vergleichbar mit Pfeilspitzen oder Fischschuppen. Corwyn staunte über die natürliche Symmetrie dieses Musters. Er legte den Kopf in den Nacken.


Die Kronen der Lepidodendronen bewegten sich sanft pendelnd im Wind. Er schätzte, dass jeder Baum an die fünfzig Meter hoch sein mußte. Der obere Teil des Stamms endete in einem Bündel gefächerter Äste, an deren Spitzen rötliche, lanzettförmige Blätter und gelbgesprenkelte, baseballförmige Sporenbehälter saßen. Er war durch den Zauber, der von der unwirklichen Schönheit dieser Bäume ausging, tief beeindruckt. Die Versteinerungen in irgendwelchen Museen konnten nicht einmal annähernd den fantastischen Anblick dokumentieren, dem er im Augenblick gegenüberstand. Wie paralysiert starrte er auf die bizarren Bäume.


Dadurch bemerkte er nicht das große, schlanke Geschöpf, das wie ein unruhig zuckender Pfeil zwischen den Sigillarien und Kalamiten umherflog. Das Wesen hatte eine bemerkenswerte Ähnlichkeit mit den heutigen Libellen. Nur die Maße stimmten irgendwie nicht. Die Spannweite der vier durchsichtigen, von feinen Adern durchzogenen Flügel betrug mehr als siebzig Zentimeter. Sie bewegten sich mit unglaublicher Geschwindigkeit unabhängig voneinander und ließen im Gegenlicht der Sonne flirrende Lichtreflexe über ihre Oberflächen huschen.


Die Meganeura kreiste brummend, wie ein urzeitlicher Helikopter, zwischen den Kronen der Bäume umher, um andere fliegende oder an den Stämmen krabbelnde Insekten zu fangen.
Corwyn Hicken erwachte wie aus einem Traum. Ein brummendes Geräusch war an sein Ohr gedrungen. Angestrengt hielt er Ausschau nach dem Verursacher. Zufällig fiel sein Blick dabei auf die Baumkronen, die hinter ihm in den Himmel wuchsen. Doch es war schon zu spät. Ein pfeilschneller, blaugrüner Blitz fuhr aus dem Schatten eines Siegelbaums auf ihn herab. Corwyn zuckte zusammen und duckte sich instinktiv.


Die Riesenlibelle schoß über seinen Kopf hinweg und wendete, kaum dass sie an ihm vorbei war. Das propellerartige Dröhnen der sirrenden Flügel wirkte erschreckend. Corwyn ruderte mit den Armen und brüllte das auf der Stelle schwebende Insekt aus Leibeskräften an. Eine bessere Strategie hatte er im Moment nicht zur Hand.


Die Meganeura schien verwirrt. Unruhig zuckte sie auf der Stelle in der Luft hin und her und fixierte das seltsame, zweibeinige Lebewesen aus den vielen Einzelfacetten ihrer halbkugeligen Augen.
Corwyn Hicken keuchte vor Schreck, als sich zwei weitere Rieseninsekten dazugesellten. Sie begannen, wohl mehr aus Neugierde, den FBI-Agenten zu umkreisen. Der geriet unter den Einfluß plötzlich aufwallender Panik. Ihm kam gar nicht erst der Gedanke, dass die Meganeura für ihn keine ernstzunehmende Gefahr darstellten. Doch ihr bloßer Anblick reichte aus, um durchzudrehen. Wild um sich schlagend, rannte er blindlings in die unbekannten Tiefen des Karbondschungels hinein, während ihm die Riesenlibellen mit eleganten Flugmanövern folgten.
Immer tiefer rannte er in die Sümpfe. Filzige Moose hingen in langen Matten an den Zweigen skurril geformter Büsche herunter und peitschten im Vorbeilaufen auf Corwyn ein. Er wurde langsamer und das filzige Zeug immer dichter. Schon bald mußte er die zähen Pflanzen mit Gewalt auseinanderzerren, damit er wenigstens schrittweise vorankam. Es dauerte nicht lange, bis seine Kräfte erlahmten. Die Helmscheibe war durch heftiges Atmen beschlagen. Corwyn Hicken erinnerte sich, dass man, um wieder freie Sicht zu bekommen, langsamer atmen mußte. Widerwillig ließ er das filzige Moos los.


Nach einer Weile lichtete sich der Nebel, und Corwyn riß erneut an den verzwirbelten Pflanzenfasern. Plötzlich war er hindurch und stand auf einmal am Rande einer Art Lichtung.
Vereinzelte Tümpel und abgebrochene, verrottende Schuppenbäume bestimmten das Bild. Die Ausstrahlung wirkte krank und verseucht. Er versuchte sich vorzustellen, welche Katastrophe wohl über diesen Teil der Welt hereingebrochen war.


Die Bäume waren an den Bruchstellen regelrecht zerfasert und tief gespalten. Er überlegte, wo er so etwas schon einmal gesehen hatte. Dann fiel ihm ein, dass die Holzfäller in den riesigen Wäldern Nordamerikas bei einem Waldbrand mit ihren Äxten tiefe Kerben in einige Bäume hackten. Dann stopften sie Dynamitstangen in die so entstandenen Spalten und sprengten eine Feuerschneise in den Wald. Die gesplitterten Enden der Fichtenstämme glichen den inzwischen schon vergammelten Lepidodendron aufs Haar.


Corwyn Hicken grunzte unwirsch und dachte an sein gemütliches Büro im Baahada-System. Sein Büro; jetzt saßen wahrscheinlich schon Andere auf seinem bequemen Sessel und lachten sich darüber kaputt, dass er auf Nimmerwiedersehen verschwunden war. Ein heftiger Zornausbruch lenkte ihn für einen Moment ab.


"Warum mußte bloß alles so weit kommen. Dieser verdammte Mistkerl!" zischte er vor sich hin und meinte im Grunde sich damit. Aber dann verschwamm der Gedanke auch schon wieder. Solche Ausbrüche brachten nichts mehr, auch wenn sie das letzte Überbleibsel seines vergangenen Lebens waren. Hier gab es niemanden, der sich auch nur beiläufig für seine Probleme interessierte.


In dieser Zeit gab es nur zwei Prioritäten, die einzig und alleine zählten: Fortpflanzung und Überleben; in Hinsicht auf den ersten Punkt allerdings für Corwyn ein nicht einmal halbwegs lösbares Problem.


Er durchquerte das geschundene Waldstück mit schnellen Schritten. Dies war kein Platz, um sich von irgendwelchen Strapazen auszuruhen. Gut eine Stunde brauchte er, bis er den gegenüberliegenden Waldrand erreicht hatte. Noch einmal drehte er sich um und ließ seine Augen über das zerstörte Areal wandern. Er konnte nur ungefähr schätzen, wie groß die gewaltsam gerodete Fläche war. Nach seiner Ansicht mußten es mehr als zwanzig Quadratkilometer sein. Wieder versuchte er, einen Hinweis darauf zu entdecken, was in dem Gebiet geschehen sein konnte. Doch der Wald gab dieses Geheimnis nicht preis.


"Dann eben nicht!" sagte er laut und kehrte der kranken Lichtung den Rücken zu.


Schon nach wenigen Schritten verwandelte sich der Wald. Die emporragenden urzeitlichen Bäume wirkten fast vertraut. Hier war alles in bester Ordnung.  Langsam ging er weiter. Die Sicht wurde allmählich schlechter. Der Abend senkte sich über den Urwald. Er brauchte einen Schlafplatz. Nach kurzem Suchen fand er einen riesigen Siegelbaum, der eine ideale Schlafmulde zwischen zwei seiner ausladenden Wurzeln besaß. Ohne lange zu überlegen, kauerte er sich wie ein Feldhase in seine Sasse hinein.


Sofort breitete sich wohlige Taubheit in seinem ganzen Körper aus, und grenzenlose Müdigkeit übermannte ihn. Kurz darauf schlief er ein, ungeachtet der Tatsache, dass er sich in einer feindlichen Umwelt befand und schnarchte mit dem vielstimmigen Gewisper der Karboninsekten im atonalen Duett um die Wette.


Die Nacht brach über den prähistorischen Wald herein.


Die Tagesinsekten verstummten und wurden von anderen abgelöst. Corwyn konnte froh sein, dass er nicht mehr wach war. Das unheimliche Zirpen und Schnarren hätte ihn sonst garantiert um den Verstand gebracht. Dazu tanzten blasse, fahlgelbe Irrlichter durch den düsteren Sumpf. Faulige Schlammblasen zerplatzten in einem nahen stinkenden Tümpel und gaben den Takt an. Die Szene wirkte wie das bewegliche Titelbild eines billigen Horrorromans. Doch der Karbonbesucher wider Willen schlief tief und fest.


Er erwachte schockartig, als die Geräusche des beginnenden Tages in sein Unterbewußtsein drangen. Von einem Augenblick zum anderen war er hellwach. Zuerst flutete ein unbestimmbares Angstgefühl durch sein Empfinden. Es wich jedoch fast sofort der stumpfen Erkenntnis, in dieser Welt bis zum unausweichlichen Ende - und darüber hinaus - gefangen zu sein. Corwyn Hicken kniff die Augen zusammen und stand auf.


Achtlos fegte er ein paar handtellergroße, rostbraune Wanzen beiseite, die es sich während der Nacht auf seinem Overall bequem gemacht hatten. Eine von ihnen wurde durch seine zugreifende Hand zerquetscht. Sie zerplatzte mit einem häßlichen Knacken und fiel zu Boden. Dort lag sie auf dem Rücken, und ihre Gliedmaßen zuckten unrhythmisch im Todeskampf.


Während ihre Artgenossen das Weite suchten, wurde sie das Opfer eines silbrigen, daumendicken Wurms, der blitzschnell aus der schlammigen Erde gekrochen kam. Mit den am Kopf sitzenden Mandibeln packte er die Wanze und zerrte sie ruckweise in den sumpfigen Untergrund. Kurz darauf war das Tier komplett verschwunden.


Angewidert setzte sich Corwyn auf eine der Sigillarienwurzeln, die in der Nacht seinen Schlafplatz wie Bettpfosten begrenzt hatten. Er zog eine Tube Nahrungskonzentrat aus dem Überlebensgürtel. Stirnrunzelnd las er das Etikett:"STEAK IN CHILLI".


"Was den Astronauten nicht schadet, das ist auch für mich ungefährlich", sprach er zu sich selbst. Zugleich kam ihm der Klang seiner Stimme ziemlich fehl am Platz vor. Warum sollte man sprechen, wenn sowieso niemand da war, der einem zuhören konnte! Er schraubte den Deckel der Tube ab und preßte die Öffnung auf ein spezielles Helmventil. Ein beweglicher Rüssel führte von der Frontscheibe zum Mund. Corwyn drückte den Inhalt der Tube in das Kunststoffrohr und saugte es dann heraus. Der Geschmack war eine mittelschwere Beleidigung für die Geschmackspapillen seiner Zunge. Aber zumindest würde ihn diese Pampe eine Weile am Leben erhalten. Als er zu Ende "gegessen" hatte, warf er die leergequetschte Tube einfach in die Büsche. Sollten sich doch die Paläontologen in 300 Millionen Jahren ihre Köpfe darüber zerbrechen, falls sie zufällig irgendwelche Reste davon finden sollten.


Mit einem Mal brach die volle Erkenntnis wie ein Hammerschlag über ihn herein, als ihm bewußt wurde, wie allein, einsam er hier wirklich war. Es gab nur ihn, den Einzigen seiner Art. Ein abgestorbener Ast im Stammbaum der Evolution. Er besaß nichts mehr, was ein Mensch begehrte; Geld, Gut - eine Frau, von der man geliebt wurde. Nein, seine kümmerliche Existenz, deren Tage noch dazu gezählt waren, versetzte ihn nicht unbedingt in Hochstimmung. Resigniert ließ er die Schultern hängen, als diese Erkenntnis stumm durch seine Gedanken prickelte. Dann sprang er auf und schrie seine Verzweiflung in die nicht daran interessierte Welt hinaus.


Irgendwann versagte seine Stimme und er sank tief bekümmert zu Boden. In den darauffolgenden Minuten durchlebte er alle Gefühle, zu denen ein verzweifelter Mensch wie er fähig war. Dann folgte eine Zeit der ohnmächtigen Hilflosigkeit. Stunden später, wie er glaubte, hob er den Kopf und schaute sich ohne besonders großes Interesse um.


Die Riesenlibellen flatterten, wie schon am Tag zuvor, zwischen den Bäumen umher. Er hatte keine Angst mehr vor ihnen. Außerdem hielt sein Anzug sie schon fern. Ein stechendes Bohren in der rechten Hand ließ ihn aufstöhnen. Seine gebrochenen Finger meldeten sich schmerzhaft zu Wort. Wenigstens hatte er sie wieder eingerenkt; gebrochen und einstweilen nutzlos blieben sie trotzdem. Sein Gebrüll daraufhin hatte man bestimmt bis in die Kreide gehört. Aber das waren im Grunde nur unwichtige Nebensächlichkeiten. Er mußte vielmehr daran denken, hier zu überleben. Noch war er nicht tot.


Neue Kraft strömte bei diesem Impuls durch seine Glieder. Corwyn Hicken würde sich nicht so schnell geschlagen geben! Andererseits konnte er hier nicht alt und grau werden. Zum Einen schon deshalb nicht, weil die Nahrungsmittel nicht ewig reichten und zum Anderen, weil er nicht einmal so etwas wie eine Waffe besaß, mit der er sich Fische fangen oder sich verteidigen konnte. Womit er schon beim nächsten Problem war. Wie sollte er gefangene Beute oder Grünzeug zu sich nehmen, wenn er den Helm nicht abnehmen durfte. Also blieben ihm vorerst nur die Konzentrate.


Während er Pfirsichcremepulver in den Helmrüssel kippte, beobachtete er weiterhin aufmerksam die Umgebung. Ein paar Meter vor ihm befand sich ein lagunenartiger Sumpfsee, dessen Ufer von Kalamiten unterschiedlichster Form, Art und Größe bewachsen war.
Einige der Schachtelhalmgewächse erkannte er wieder. Sie befanden sich im versteinertem Zustand in den Glasvitrinen des Bostoner Museums für Erdgeschichte. Seine Ex-Frau hatte besonderes Interesse an Versteinerungen gehabt, wodurch Corwyn zumindest einige Pflanzen oder Tiere erkannte. Seufzend versuchte er die Erinnerung daran zu verscheuchen und konzentrierte sich statt dessen auf die bizarre Schönheit der realen Kalamiten.


Einige von ihnen waren mindestens dreißig Meter hoch. Zum Teil wuchsen kräftige Seitenarme aus den hölzernen, schnurgeraden Stämmen, die nur durch die Knoten, die am Ende jedes Segments saßen, unterbrochen wurden. An den Spitzen der Äste und Haupttriebe befanden sich, genau wie bei den heutigen Arten, die Sporenbehälter.


Wieder überfiel Corwyn eine verzweifelte Melancholie. Aber zwang sich mit Gewalt aus dem Zustand heraus und fuhr mit seinen Betrachtungen fort. Irgend etwas mußte er schließlich tun, um nicht vollends den Verstand zu verlieren. Und dazu war dieser Platz genauso gut geeignet wie jeder andere. Er stand mit einem Ruck auf, um sich die Schachtelhalme aus der Nähe anzusehen. Dabei achtete er sorgfältig darauf, wohin er trat. Er hatte nicht die geringste Lust, das gleiche Schicksal wie die Wanze zu erleiden. Denn der urzeitliche, morastige Boden wimmelte offenbar vor geheimnisvollem, ekligen Leben.


Als er den vordersten der Kalamitenstämme erreicht hatte, rüttelte er an ihm herum. Gemächlich setzte sich die Krone des wohnhaushohen Schachtelhalms in Bewegung. Im Zurückschlagen brach der Kalamit direkt über einem der Internodien etwa auf der Hälfte ab und splitterte ächzend auseinander. Der obere Teil vollführte daraufhin eine halbe Drehung und krachte geräuschvoll nach unten. Dabei riß er die darunterliegenden Triebe einfach mit sich. Corwyns Augen weiteten sich vor Schreck, als er nach oben sah.


Die Zeit verlangsamte sich plötzlich. Er verglich die herabrasende Kalamitenspitze mit dem Start einer dieser Apolloraketen. Nur, dass die Richtung irgendwie nicht die gleiche war. In diesem Augenblick hob er abwehrend die Arme; unfähig, noch wegzulaufen. Wie paralysiert starrte er auf die herabrasende grüne Rakete. Und dann begrub sie den verstörten Schurken berstend unter sich. Corwyn konnte von Glück sagen, dass dieser Leichtsinn ihm nicht vorzeitig zum Verhängnis wurde. Der Schachtelhalm war noch nicht groß genug gewesen, um ihn seiner Existenz zu berauben.


Mühsam arbeitete er sich aus den geschredderten Blättern und zersplitterten Stammteilen heraus. Dann fluchte er ungeniert über seine eigene Dummheit. Die unflätigen Äußerungen nahmen ihn voll in Anspruch.


Dadurch entging ihm der Arthropleura, der sich von hinten behutsam an ihn herangeschlichen hatte und nun, wie schon sein inzwischen toter Artgenosse am Tag zuvor, an Corwyns Hosenbein hochkletterte. Es folgte das Unvermeidliche - er brüllte: "Nicht schon wieder!" und hieb auf den häßlichen Schädel ein. Knackend platzte der Kopf wie zäher Puddingbrei auseinander.


Corwyn Hicken wich geschickt den umherspritzenden gallertartigen Eingeweiden aus. Der Gliederfüßler zuckte noch einen Augenblick und rollte sich dann wie eine Kellerassel zusammen. Im nächsten Augenblick begann der Boden zu leben. Die feuchte Erde brodelte förmlich, als Dutzende der silbrigen Würmer sich an die Oberfläche wühlten, um den beinlangen Arthropleura hinunterzuzerren. Er trat beiseite und sah zu.


Die Würmer legten eine unglaubliche Geschwindigkeit an den Tag. Der tote Gliederfüßler drehte sich in Spiralen um seine eigene Achse und sank schnell tiefer.


Schaudernd versuchte er sich vorzustellen, wie lange diese antiquierten Totengräber wohl für ihn brauchen würden. Ihm wurde schlecht bei dem Gedanken. Trotzdem übergab er sich nicht. Schließlich steckte er mit dem Kopf in einem abgeschlossenen Helm. Er reinigte den Overall notdürftig an einer kleinen, trüben Wasserlache. Danach wanderte er planlos am Rand des Sumpfsees entlang.


Einmal schwirrte eine Meganeura so dicht an seinem Kopf vorbei, dass er vor Schreck fast ins Wasser gefallen wäre. So steckte er "nur" bis zu den Knien im morastigen Uferschlamm. Bei jeder Bewegung rutschte er ein kleines Stück tiefer in den sumpfigen Boden. Hektisch blickte er sich nach einem Halt um, an dem er sich aus der saugenden Brühe herausziehen konnte. Eine Lepidodendronwurzel, die halb im Schlamm vergraben war, wurde schließlich sein Lebensretter. Unter Aufbietung aller Kraft arbeitete er sich Stück für Stück aus dem saugenden Schlamm dem Ufer entgegen, wo ihn schon die nächste Überraschung erwartete. Denn kaum hatte er sich befreit, als sich die Kalamiten direkt vor ihm unregelmäßig bewegten. In Windeseile kam er auf die Füße, obwohl er noch völlig fertig von der Schlammeinlage war. Das heisere Brüllen zwischen den Stämmen richtete seine Nackenhaare auf. Und dann brach ein großes Ungeheuer aus dem Kalamitenwald hervor.


Sowohl Corwyn, als auch der Saurier erschraken zutiefst.


Beide brüllten so laut sie konnten und flüchteten in entgegengesetzte Richtungen. Dabei war Corwyns Angst völlig unbegründet. Denn der Edaphosaurus sah dem Dimetrodon zwar etwas ähnlich, aber er war ein harmloser Pflanzenfresser. Das fiel dem Verbrecher aber erst nach mehreren hundert Metern ein, nachdem er wie ein Irrer durch den Urwald gehetzt war. Im Karbon beschränkten sich die Räuber noch auf die Seen und Meere.


Wieder fluchte er, nachdem er stehengeblieben war, über seine willkürliche, kreatürliche Angst. Nach einer Weile hatte sich wieder einigermaßen beruhigt. Als er sich umsah, entdeckte er nicht weit von sich entfernt einen Fluß. Er kämpfte sich zwischen den Keilblattgewächsen hindurch, die wild nach allen  Seiten wucherten, um sich irgendwo festzukrallen. Die rasiermesserscharfen Krallenwurzeln rissen kleine Löcher in Corwyns Overall, wovon er allerdings nichts bemerkte. Dann stand er endlich am Saum des Gewässers und schaute auf die träge, trübe dahinfließende Brühe, die von der Konsistenz her schon fast an eine organische Nährsuppe erinnerte.
Ab und zu tauchte eine kräftige schwarze Rückenflosse aus dem Wasser auf, wirbelte eine Zeitlang an der Oberfläche herum und verschwand dann wieder in der Flut. Die Wellen, die er verursachte, deuteten darauf hin, dass der Fisch eine beachtliche Größe haben mußte. Kurz darauf erschien ein breiter, häßlicher Schädel mit Glubschaugen.


Corwyn versuchte sich zu erinnern, wie das Tier hieß, bis ihm einfiel, dass es ein Quastenflosser sein mußte. Zwar sah dieser hier komplett anders aus. Doch die Flossenmerkmale waren die gleichen. Wie gut würde jetzt ein gebratener Fisch schmecken. Doch er verwarf den Gedanken augenblicklich wieder. Die alten Probleme hinderten ihn daran, sich einen zu fangen; keine Angel, kein Haken, kein Wurm - kein Fisch! Er schluckte den bitteren Gedanken hinunter und zog eine Tube Nahrungskonzentrat aus dem Überlebensgürtel. Doch als er das Etikett las, auf dem "Thunfisch delikat" stand, steckte er sie wieder weg. Jetzt verarschten ihn sogar schon die eigenen Lebensmittel.


Er hockte sich hin und merkte, wie sich seine Blase meldete. Schnell verrichtete er sein Geschäft. Danach lehnte er sich an den Stamm eines Schuppenbaums, der seine vordersten Wurzeln ins Wasser gestreckt hatte, während sich die hinteren auf dem festen Land in den Boden bohrten. Nachdenklich betrachtete er die regungslose Oberfläche des Flusses.


Die Quastenflosser pflügten durch das grünliche Wasser und fraßen alles, was sich in der Suppe bewegte. Mehrmals konnte er miterleben, wie einige der Raubfische irgend welche schlangenartigen Tiere fingen. In dem Moment, als sich die zahnbewehrten Kiefer des prähistorischen Latimeria in den aalartigen Leib bohrten, wand sich die etwa siebzig Zentimeter lange "Schlange" um den Kopf des Fisches. Unbeeindruckt zog der ihn unter den Wasserspiegel, um ihn zu verspeisen.


"Wenigstens können die sich was anständiges zu essen fangen", dachte Corwyn wütend. Er stieß sich vom Stamm ab und marschierte weiter. Ohne zu wissen, wohin er lief, geriet er immer tiefer in den Wald hinein.


Manchmal blieb er stehen, um sich die seltsamen Muster der Lepidodenron anzusehen. Sie erinnerten tatsächlich an Fischschuppen. Die Blattnarben, die den Baum in der gesamten Länge überzogen, hatten eine hellbraune Farbe, während die Bruchkanten graubraun glänzten. Dennoch konnte Corwyn nicht sagen, woher das urtümliche Aussehen kam.


Bei den Siegelbäumen war diese Auffälligkeit noch größer. Ihre Narben verliefen fast ausschließlich senkrecht am Stamm. Die beinahe quadratischen Begrenzungen der ehemaligen Blattansätze wirkten wie endlose, schnurgerade Leitern, die - Reihe an Reihe - nach oben führten.
Aber vorerst betrachtete Corwyn noch den Schuppenbaum, vor dem er stand. Er warf einen Blick in die weit entfernte Krone. Doch als ihm schwindelig wurde, senkte er schnell den Kopf.

 

Achselzuckend wandte er sich ab und streifte weiter durch die von keiner Menschenhand berührte Wildnis. Ein paarmal stolperte er über verborgene Baumwurzeln und fiel der Länge nach hin. Jedesmal begleitete ein derber Fluch seine eigene Ungeschicklichkeit. Sein Overall war schon bald Dreck verkrustet. Der trocknende Matsch machte ihn darüber hinaus noch steif und unbeweglich. Corwyn ging mit eckigen Bewegungen, ständig kleinen Pfützen und Wurzeln ausweichend, zwischen den Baumriesen umher. Er fühlte sich wie ein Roboter, den man auf Halde geworfen hatte und der darauf wartete, dass seine Energie verbraucht war.


Mißmutig wollte er einen Stein wegkicken; bereute es aber im nächsten Augenblick, diesen Versuch unternommen zu haben. Der Felsbrocken bewegte sich nicht einen Millimeter. Sein Fuß prallte mit voller Wucht gegen den Stein. Zugleich heulte er vor unglaublichem Schmerz auf, der wie eine feurige Explosion in seinem Bein detonierte. Es war die berühmte Spitze des Eisberges, die ihm zum Verhängnis wurde. Nur das obere Drittel ragte aus dem sumpfigen Waldboden.


Corwyn hüpfte keuchend auf einem Bein herum und schrie wie ein Irrer. Zum Glück konnte er nicht so schnell feststellen, wie die Zehen aussahen. Vielleicht war es auch besser so. Dem pochenden Gefühl nach zu urteilen, mußte mindestens eine Zehe gebrochen sein. Er fiel hin und jammerte am Boden weiter.


Irgendwann wich das üble Puckern einem anhaltenden, dumpfen Hintergrundsschmerz. Er versuchte aufzustehen und war erstaunt, dass sein Bein sich nicht dazu entschloß, wieder loszubrüllen. Humpelnd setzte er seinen Weg fort. Er kam in ein Gebiet, das ausschließlich von Siegelbäumen besiedelt war. Der Untergrund wurde trockener und stieg leicht an. Am Boden krochen die Ausläufer von Keilblattgewächsen haltsuchend umher. Corwyn bückte sich, um die blaugrünen, dreieckigen Blätter einer näheren Betrachtung zu unterziehen.


Doch auf dem halben Weg zuckte er plötzlich zurück, als er die fette Spinne sah, die sich zwischen den niedergedrückten Pflanzen versteckte. Sie hatte die Größe einer ausgestreckten Hand. Ihr dicker, vielfach unterteilter Hinterleib schimmerte matt im Halbdunkel des Keilblattgestrüpps. Der plumpe Körper der prähistorischen Cheliserata bewegte sich. Das Tier sprang erstaunlich behende auf die kurzen, kahlen Beine und lief davon.


Er folgte der Spinne angewidert/fasziniert mit den Augen. Sie enterte den nächsten Baum und krabbelte mit einer Geschwindigkeit an der Rinde der Sigillarie hoch, die er ihr nicht auch nur einen Augenblick lang zugetraut hätte. Selbst aus größerer Entfernung war noch das rhythmische Zucken ihres segmentierten Leibs zu erkennen. Nach einigen Metern wechselte sie auf dem Weg zur grünflammenden Krone die Baumseite und entschwand so seinem Blick.


Die zahllosen, armlangen Blätter des Siegelbaums verbanden sich zu einem phosphorizierenden Schopf, der aufrecht an der Spitze in den urzeitlichen Himmel ragte. Die anderen Sigillarien um ihn herum besaßen meist vierfach verzweigte Schopfkronen. Aber alle hatten eines gemeinsam. Ihre Blätterhauben wirkten wie grüne Flammen auf einer monolithischen Pflanzensäule. Bis zu vierzig Meter mußten einige von ihnen hoch sein, schätzte er.


Direkt unter den Schopfansätzen hingen kranzförmig angeordnete, gelbgesprenkelte Samenschoten. Corwyn war ehrlich beeindruckt. Daneben wirkten die fossilen Überreste in den Museen der Welt ausgesprochen kümmerlich. Vielleicht hatte sich das Blatt ja inzwischen zu seinen Gunsten gewandelt und man rettete ihn aus der mißlichen Lage. Ohne noch lange weiter zu spekulieren, machte er kehrt, um zu seinem Ausgangspunkt zurückzukehren. Er hoffte, dass er sich nicht schon zu weit verlaufen hatte.


Die erste Strecke rannte er, obwohl der demolierte Fuß dagegen wild pochend protestierte. Doch als seine Lungen vor Überbeanspruchung zu brennen begannen und er höllische Seitenstiche bekam, blieb er keuchend stehen.


Das Helmvisir beschlug durch sein unregelmäßiges, heftiges Atmen. Blind tastete er sich nach unten und setzte sich auf den Boden. Er zwang sich, ruhiger zu atmen. Während er darauf wartete, freie Sicht zu bekommen, fiel irgend etwas auf seinen Helm herunter. Er konnte nicht sehen, was es war und grabschte er mit der linken Hand nach oben. Eine faustgroße Masse zappelte wild zwischen den Fingern herum. Erschreckt ließ er sie los.


Langsam verlor die Sichtscheibe ihre vorübergehende Blindheit. Vor ihm auf dem Boden lag ein angequetschter, aber noch lebendiger Tausendfüßler. Corwyn hatte ihn voll erwischt, obwohl das bestimmt nicht in seiner Absicht gelegen hatte. Das waidwunde Tier wand sich wie ein Regenwurm, den man auf einen Angelhaken zog, um sich selbst. Der Acanthopetes lag im Sterben. Von einem Augenblick zum anderen verlangsamten sich die windenden Bewegungen. Kurz darauf zuckte der schwarzglänzende, ineinander verknäulte Körper nur noch einige Male und das Gliedertier war tot.
In Windeseile sprang Corwyn hoch. Er wußte, was jetzt kam. Und richtig; kaum, dass er aufgesprungen war, tauchten die Würmer aus der Erde auf, um sich ihren Tribut zu holen.
Er ersparte sich den Anblick und lief statt dessen weiter. Die Spur, die er hinterlassen hatte, als er hier das erste Mal durchkam, war noch gut sichtbar. Er wich ständig irgendwelchen Krabbeltieren aus, von denen ein beachtlicher Teil bisher nie in den eigentlich umfangreichen, paläontologischen Annalen aufgetaucht war. Trotzdem hatte er keine Zeit, um sich näher mit ihnen zu befassen. Denn im Grunde wollte er, so schnell, wie es nur ging, weg hier. Jeder andere Mensch in seiner beschissenen Lage hätte wahrscheinlich genauso gehandelt. Er durchquerte die kahle Lichtung.


Trübe hing die Sonne am blaßblauen Himmel. Das Wetter schlug um. Seine Schritte beschleunigten sich wieder. Denn wer konnte schon sagen, was geschah, wenn es im Karbon zu sintflutartigen Regenfällen kam.


Schlagartig zogen dunkle Wolken auf. Der erste Blitz fuhr krachend zwischen die Bäume und traf einen von ihn. Corwyn konnte von seinem Standort sogar die brennende Sigillarie erkennen. Die elektrische Entladung hatte ganze Arbeit geleistet. Das obere Drittel des Baumes war durch die enorme Hitzeentwicklung glatt abrasiert worden. Der Stumpf brannte zur Hälfte lichterloh. Auch ihn hatte der Blitz der Länge nach gespalten. Das Prasseln des Feuers drang an seine Ohren und mahnte ihn, weiterzugehen. Außerdem spürte er die elektrisierte Luft. Seine Haare knisterten und standen zum Teil vom Kopf ab.


Ein zweiter Blitz zuckte aus den Wolken und beflügelte seine Schritte. Dann fing es an zu regnen. Zuerst fielen nur vereinzelnd einige Tropfen. Doch innerhalb weniger Minuten fauchte ein ausgewachsener Regenschauer durch den Urwald. Corwyn beeilte sich. Der Boden weichte zusehens auf. Schon jetzt versank er bis zu den Knöcheln im morastigen Untergrund, wenn er stehenblieb. Das Krachen der Blitze und der darauffolgende Donner verursachten eine unangenehme Taubheit des Gehörs. Trotzdem lief er weiter.


Nach einiger Zeit ließ der Schauer nach. Der Sumpfwald wurde seinem Namen mehr als gerecht. Corwyn blieb stehen und sah sich um.


Eine einzige zusammenhängende Wasserfläche hatte sich gebildet. Er verlor die Orientierung. Unwillig bewegte er sich vorwärts und zog dabei die bis zu den Waden eingesunkenden Füße unter einiger Anstrengung aus dem saugenden Morast. Jetzt kam er nur noch halb so schnell voran. Ihm fiel auf, dass der Wasserspiegel schnell sank, was jedoch nichts daran änderte, dass es eine mühselige Qual blieb, sich durch den Sumpf zu arbeiten. Auch wenn das Wasser vollständig ablief, konnte es noch Stunden dauern, bis der Boden wieder einigermaßen vernünftig begehbar wurde. Fluchend schleppte er sich weiter. Er hatte keine andere Wahl, wenn er hier weg wollte.


So verging die Zeit.


Nach einigen Stunden war er so erschöpft, dass er sich auf eine Baumwurzel setzen mußte. Wenigstens bekam er in diesem Anzug keine kalten oder nassen Füße. Damit endeten aber auch schon die Vorzüge seiner Situation. Er zerbiß einen Fluch auf den Lippen und blickte in die Runde.


Inzwischen konnte man wieder den Erdboden sehen. Das Wasser war abgelaufen. Seine Spur jedoch hatte sich aufgelöst. Corwyn wollte sich nachdenklich am Kopf kratzen, doch der Helm verhinderte sein Vorhaben. Wirkungslos prallten seine behandschuhten Finger gegen das Plastikmaterial. Er grunzte und stand genervt auf. Noch einmal versuchte er herauszufinden, woher er gekommen war. Doch er fand keinerlei Anhaltspunkte mehr, die ihm als Wegweiser hätten dienen können.


Schließlich entschied er sich für die Richtung geradeaus und stapfte erneut los. Weit kam er nicht mehr; der Karbontag neigte sich langsam, aber unaufhaltsam seinem Ende zu. Er suchte sich resigniert einen Schlafplatz und schob sich eine Tube Nahrungskonzentrat in den im Helm sitzenden Rüssel. Dann gähnte er herzhaft und dachte noch einmal an sein verlorenes Leben, bevor er sich am Fuße einer Sigillarie zusammenrollte und erschöpft einschlief.


Wieder erwachten die Nachttiere, um ihren verschiedenen Aufgaben nachzugehen. Einige davon machten sich daran, den schnarchenden Ex-Piraten näher zu untersuchen. Diesen Job übernahmen die halbmetergroßen Tausendfüßler. Zu Dutzenden krochen sie auf Corwyn Hicken zu. Er war so erschöpft, dass er nicht aufwachte, als die ersten Acanthopeten neugierig über seinen Overall krabbelten. Sie suchten nach einer Einstiegsmöglichkeit. Corwyn wälzte sich im Schlaf herum und zerdrückte vier der Gliederfüßler, die sich auf seinem Rücken befanden. Knackend zersprangen ihre Chitinpanzer unter dem Gewicht. Sie starben so schnell und lautlos, dass es ihnen wahrscheinlich nicht einmal bewußt wurde, was überhaupt geschah.


Durch die Drehung, die er vollführte, präsentierte er den Tausendfüßlern ungewollt die Seite des Overalls, die durch die Krallen der Keilblattpflanzen an mehreren Stellen aufgerissen worden war. Es dauerte nicht lange, bis die Acanthopeten die Risse entdeckt hatten.


Schon steckte der erste Gliederfüßler seinen drei Zentimeter breiten Kopf durch die zerfranste Öffnung des Stoffs und kletterte in den dunklen Raum zwischen Overall und Tweedhose. Kurz darauf folgten die anderen seinem Beispiel.


Inzwischen dämmerte der Morgen über dem Karbon. Das allmorgendliche Gezeter der Tagesinsekten weckte Wilbur. An diesem Morgen war der Schock des Erwachens nicht mehr so schlimm wie am Tag zuvor. Gähnend erhob er sich und streckte seine Arme, um den letzten Rest Müdigkeit zu vertreiben.


Etwas stach an seinem Hals.


Verärgert drehte er den Kopf hin und her, um das lästige Gefühl loszuwerden. Aber genau das Gegenteil geschah. Fluchend versuchte Corwyn, indem er am Helmansatz herumdrückte, der Lage Herr zu werden. Doch im gleichen Augenblick schrie er entsetzt auf, als er einen riesigen Tausendfüßler vom Hals her in seinen Helm krabbeln sah. Das Tier kümmerte sich nicht um seine verzweifelten Schreie und schob seinen glänzenden, schleimigen Leib über Corwyns Gesicht.
Er brüllte wie am Spieß, als die klebrige Substanz, die den Körper des Acanthopetas wie eine schützende Hülle umgab, auf seine Haut traf.


Halb irrsinnig vor Ekel und Schmerz schlug er mit beiden Händen wie wahnsinnig auf den Helm ein. Doch statt der erhofften Linderung ließ sich ein zweiter Gliederfüßler im Helm blicken. Vielleicht wollte er nur nach seinem Kumpel schauen, um sicherzugehen, dass auch alles in Ordnung war. Corwyn aber war damit ganz und gar nicht einverstanden.


Beim Anblick des zweiten Tausendfüßlers verlor er vollends den Verstand. Sein Gesicht war eine einzige brennende Wunde. Mit dem Kopf voran rannte er gegen einen Baum. Der Helm dröhnte wie ein Gong, und er taumelte benommen zurück. Den beiden Genossen im Helm schien dieses Intermezzo regelrecht Spaß gemacht zu haben. Freudig klammerten sie sich in sein Gesicht und sonderten noch mehr Schleim ab.


Der Marodeur kreischte wie von Sinnen und hämmerte immer wieder auf den Helm ein. Irgendein verborgener Winkel seines Bewußtseins flüsterte ihm zu, den Helm doch einfach abzunehmen. Er begriff trotz der Schmerzen, dass diese Möglichkeit die einzige war, um die Viecher loszuwerden.
Hastig schraubte er den Helm vom Kragen des Overalls ab und riß ihn herunter. Er warf ihn davon, ohne darauf zu achten, wohin der Kopfschutz flog. Auf Nimmerwiedersehen verschwand das Teil gluckernd in einem trüben Tümpel, der zu Corwyns Pech genau in der Flugrichtung lag.


Aber Cedrics Bruder hatte im Augenblick ganz andere Probleme. Schreiend zerrte er die Tausendfüßler stückweise vom Gesicht. Widerlich süßlich riechender Eingeweideschleim lief ihm über die Wangen. Endlich hatte er sich befreit und wollte gerade aufatmen, als er im Innern des Overalls noch andere, krabbelnde Bewegungen verspürte.


In fieberhafter Eile zog er den Überlebensanzug aus und zerquetschte dabei drei weitere Tiere. Aber er war noch nicht fertig. Auf der Haut seiner Beine und des Rückens hatten sich ebenfalls einige Gliederfüßler häuslich eingerichtet. Er riß die Klamotten herunter und schlug mit der Faust auf die Acanthopeten ein. Im Todeskampf zuckend fielen sie zu Boden und wurden die Beute der im Schlamm lebenden Würmer.


Corwyn rannte zur nächstbesten Sigillarie und scheuerte mit dem nackten Rücken an der narbigen Rinde des Siegelbaums herum. Dabei wurden die letzten beiden Tausendfüßler zu Brei zermalmt.


Jetzt erst wurde er sich seiner mißlichen Lage, in der er steckte, langsam bewußt. Er fühlte sich ein wenig schwummerig, so, als ob er Fieber bekam. Der Schleim dieser Höllenviecher mußte irgendein Betäubungsgift enthalten. Seine Bewegungen wurden ungelenker.


Benommen untersuchte er das Innere des Overalls. Als er jedoch keine weiteren Tiere darin entdeckte, zog er ihn wieder an. Und dann begriff er plötzlich, dass er schon die ganze Zeit über die Atmosphäre des Karbons einatmete.


Die Suche nach dem Helm verlief ergebnislos. Er fand ihn nie wieder. Ein eiskalter Schauer lief ihm über den Rücken, als er an die nächste Nacht dachte. Wenn ihn die methanhaltige Luft nicht irgendwann umbrachte, dann würden die Insekten dieser Zeit diese Arbeit erledigen.
So oder so hatte er mit dem Verlust des Helms sein Todesurteil unterschrieben. Wenigstens erstickte er nicht an der Zusammenstellung der verschiedenen Gase, die den Pflanzen und Tieren Nahrung und Leben schenkten. Wie lange konnte er jetzt noch durchhalten? Ein paar Stunden...Tage...Wochen? Er wußte es nicht.


Das toxische Tausendfüßlergift wallte in seinen Blutbahnen und erzeugte ein Gefühl von wattiger Nebligkeit in seinem Körper. Darüber hinaus verschlechterte sich sein Sehvermögen zusehens. Stöhnend griff er sich an den Kopf und wankte einige Schritte umher. Als ihm das nicht half, lehnte er sich an einen Baumstamm und atmete langsam tief ein und aus.


Die Unschärfe der Augen besserte sich einige Minuten später etwas. Er stieß sich vom Stamm ab und ging, immer noch schwankend, geradewegs auf den Tümpel zu, der nicht weit entfernt träge dahindümpelte. Einen Augenblick lang überlegte er, ob er sich wirklich einige Hände voll Wasser ins Gesicht spritzen sollte. Aber dann hockte er sich hin und spritzte sich etwas von der Flüssigkeit ins Gesicht. Er erhob sich wieder und holte eine Tube aus dem Gürtel heraus.


Achtlos quetschte er sich den Inhalt in den Mund und würgte die eigenartig schmeckende Pampe herunter. Danach hakte er den Trinkwasserbehälter zum ersten Mal, seitdem er hier war, vom Gürtel ab und trank einen kräftigen Zug. Das Trinkwasser hatte er völlig vergessen, obwohl das Gewicht an seiner Seite ihn eigentlich ständig daran hätte erinnern müssen. Aber er hatte ja sogar das Trinken selber vergessen.


Er schraubte den Plastikbehälter zu und hing ihn an den Gürtel zurück. Ohne noch großartig über irgend etwas nachzudenken, marschierte er einfach in den Wald hinein.
Die Wirkung des Gifts hielt unvermindert an. Er taumelte durch das Unterholz und stolperte ziemlich häufig über seine eigenen Beine. Als er ein sattes Brummen hinter sich hörte, fuhr er herum und stöhnte.


Eine Patrouille von fünf Riesenlibellen näherte sich ihm gemächlich. Eine der Meganeuras scherte aus dem fast schon militärisch anmutigen Verband aus und raste im Zickzackflug über seinen ungeschützten Kopf hinweg. Das war zuviel für Corwyn Hicken.


Sein Verstand schnappte von einer Sekunde zur anderen über. Seine Augen verdrehten sich, bis nur noch die glasigweißen Augäpfel zu sehen waren. Er brüllte wie ein in die Ecke getriebenes Tier und schlug wie wahnsinnig um sich. Die Meganeura beobachteten das umherwirbelnde Wesen aus sicherer Entfernung.


Regungslos schwebten sie mit ihren filigranen, aber dennoch kräftigen Flügeln auf der Stelle in der Luft. Corwyn schrie sich das letzte bißchen Verstand aus dem Hals. Dann rannte er los, ohne noch die Kontrolle über seine geschundenen Sinne zu besitzen. Ungefähr zweihundert Meter weiter kam dann das Ende.


Er stolperte über eine aus dem Boden ragende Baumwurzel und flog, vom eigenen Schwung vorangetrieben, im hohen Bogen durch die Luft. Mit dem Kopf knallte er auf einen Stein und brach sich so das Genick. Ein letzter, leiser Seufzer beendete seine Existenz.


Noch während des Fluges hatte er seine Arme nach vorne gestreckt. Während der linke durch die hervorstehende Baumwurzel nach hinten gerissen wurde, klatschte der rechte beim Aufprall mitten in ein Schlammloch hinein. In dieser Position starb Corwyn Hicken dann auch.


Jetzt übernahmen die Insekten ihre Aufgabe, und schon bald würde nur noch ein langsam verrottendes Skelett, das in einem zerschlissenen Overall steckte, davon zeugen, wie vergänglich das Leben doch im Grunde war...